Startseite
Archiv



Irgendwann im April


... wurde es Frühling. Schön ist das.



Allein zurück nach Hause. Erst heute, als ich allein durchs heimatliche Dorf lief, wurde es mir bewusst: daß ich mir all die Jahre Verstärkung mitgenommen hatte. Heute war da niemand, dem ich, womöglich zum hundersten Male hätte sagen können: Schau, hier am Bach, da hat mein Opa mich abgestellt und so getan, als wolle er nun ohne mich weitergehen. Oder dort hinter den Wiesen, siehst Du die Pferdekoppeln? Da vorne rechts, da kommt jetzt gleich das Milchhäuschen, da haben die Bauern früher die Milch in riesigen Kannen hingekarrt. Heute war ich allein mit meinem Kopf und die Dinge waren - anders. Näher. Die Dinge und das Dorf waren mir näher, zugleich war ich fremder. Die Metzgereiverkäuferin nahm mich gar nicht wahr, glaube ich, ich, eine Unbekannte für sie, womöglich zugereist?, hm, ein wenig freundlicher könntest Du durchaus sein, ich habe hier schon Gelbwurstscheiben gekriegt, da warst Du wahrscheinlich noch gar nicht geboren, und manchmal hab ich mit der Tochter des Metzgers gespielt, also ist es doch auch ein bißchen meine Metzgerei hier in meinem Dorf, oder nicht?

Die Vergangenheit schleicht sich schon lange an mich an, ich spüre das seit Wochen, vielleicht schon seit Monaten, ich blicke ihr ruhig entgegen, nur ein bißchen furchtsam, manchmal trete ich einen Schritt auf sie zu, wir scharwenzeln umeinander, als wäre es eine Balz; oder ein Kampf. Heute wäre es fast zu einer Umarmung, oder einem Aufeinanderprallen, gekommen. Was das wohl geben wird, wenn es soweit ist. Da fällt mir der Traum der letzten Nacht ein: Ich träumte, daß ich mit dem Taxi zurück ins Dorf fahre, doch die Fahrerin kannte sich nicht aus, bog ständig falsch ab und hat mir nicht zugehört, als ich ihr den richtigen Weg zeigen wollte.

Ist die Vergangenheit, zumindest die Vergangenheit außerhalb des Kopfes, nicht das einzig Beständige? Ist sie deshalb nicht das Einzige, an dem man sich festhalten kann? Wenn man denn etwas zum Festhalten wollte, oder bräuchte.



Kurz darauf in der Nacht: Die Urgroßmutter möchte noch einmal durchs Dorf laufen. Ich begleite und stütze sie, die winzige, zittrig schlurfende Uroma. Mit einemal hält sie inne, streckt sich, lauscht: Der Musik, die leise aus dem Gasthof klingt. Da will sie hin, zur Musik, zum Leben, im Dorf ist doch sonst nichts; und es stimmt, kein Mensch, kein Laut, nichts ist uns begegnet, es ist ein Geisterdorf. Aber Oma, sage ich, Du hast doch nur ein Hemdchen an, willst Du wirklich so in die Wirtschaft?, und dann trifft mich ihr Blick, so wie er immer war, bevor sie sich für viele Jahre ins Bett gelegt hat, aufmerksam, klar, wissend; und sagt Ach Kind, ich bin jetzt 112 Jahre alt und seit zwanzig Jahren tot: Glaubst Du, es stört mich, nur ein Hemdchen anzuhaben?



Irgendwann im April galt es als sicher, daß der Siebzehnjährige überleben wird. Noch unsicher ist, in welchem Zustand er dies tut. Die Schwester scheint gefasst. Mein Blick ist geschärft: Vielerorts sehe ich alte Menschen, die zu ihren Autos wackeln und tatsächlich auf dem Fahrersitz Platz nehmen. Ich möchte sie einen nach dem andren verprügeln.



Irgendwann im April begann ich auch wieder, mich in Norenberc umzutun.


Die Kollegin, die drei Wochen nicht da war, als sie mich wieder sieht: "Was ist denn mit dir los? Du siehst ja gar nicht mehr soooo schlimm aus!" Hurra, das war es, was ich hören wollte. Ich glaube, ich fühle mich auch nicht mehr sooo schlimm. Ich glaube, ich bin wieder da.