sammlung



notiert

sequenzen




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30.11.02
Morgen ist der erste Dezember und zugleich der erste Advent. Zeit für Kerzen, Kränze und Kalender. Kerzen sind zeitlos, Kränze mag ich nur aus Gänseblümchen und mein Kalender beginnt am 14.12. Wenn ich es schaffe ihn fertigzustellen, wenn nicht alles zusammenbricht, wenn nichts dazwischenkommt. Wenn nichts dazwischenkommt. Hätte ich das nur mal am 26. nicht rausgelöscht. So werde ich niemals reich und auch nicht zu Ruhm und Ehren kommen, doch weiterhin mit den Raben auf den steinernen Treppen sitzen. Alles andre hätte mir zumindest einen Teil meines Herzens zerrissen. Vieles ist anders geworden und wird ab Januar noch viel mehr anders, aber meine Wochenenden bleiben. - Wenn nichts dazwischenkommt -. Stand da ursprünglich noch. Hätte ich das nicht gelöscht, wäre vielleicht nichts dazwischengekommen. Unfug. Nirvana unplugged eben auf mtv. Kurt Cobain tangiert wie immer tiefliegende Schichten meiner beschissenen Zwiebelseele. TV aus.
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Nachdem mir in letzter Zeit von zwei Menschen ernsthaft nahegelegt wurde, ich solle mich doch mal bei "Wer wird Millionär"? bewerben, habe ich mir diese Sendung eben das erste Mal angesehen. Die Fragen konnte ich fast alle beantworten oder hätte sie richtig erraten. Aber mir wurde schon schlecht vor Nervosität allein bei der Vorstellung, auf dem Hocker da zu sitzen. In echt würde ich vor Aufregung wahrscheinlich runterfallen. Geschaut hab ich bei meinem Sohn. Der ist ein Zapper und das mag ich gar nicht. Diesmal war seine Zapperei gut: Hab ich noch Nirvana gesehen.
....................I'm so ugly that's ok ....................

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Ein junger Blondgelockter, während des Wartens am Bahnsteig auf den (verspäteten) Zug, strebt gezielt auf mich zu (Kenn ich den? Den kenn ich nicht), silberblickt mich an und erzählt mir ohne Hallo oder sonstige Einleitung, daß es schwierig sei, mit dem Zug von Schwandorf nach Regensburg zu reisen. Hm, keine Ahnung, dort war ich noch nie. Doch, sehr schwierig ist das, doch er muss jetzt langsam zurück, sie vermissen ihn schon. Und es ist immer besser, freiwillig zurückzukommen anstatt mit der Polizei. Ja, das glaub ich sofort. Es geht noch, wenn man nur aufgegriffen wird, das ist ihm schon oft passiert, weil er keinen Ausweis hat und dann darf die Polizei einen Menschen aufgreifen. Schlimmer ist es, beim Schwarzfahren erwischt zu werden. Schwarzfahren, oweh, ich muss meine Fahrkarte stempeln und weg.

Als er mich wiederkommen sieht strahlt er. "Nun hab ich Sie an das Stempeln erinnert, nicht wahr? Zwar nicht absichtlich, doch ohne mich wären Sie nun schwarz gefahren." Stimmt. Bin ich vorhin in der U-Bahn schon, bin die Monatskarte gewöhnt. In U-Bahnen fährt er immer ohne Fahrkarte, in München und Salzburg und wo immer er war, sogar in Florida, die Reise hat er gewonnen, da hatte er mal Glück, im Juni in Florida war es sehr schön. Aber nun muss er zurück. Bevor er aufgegriffen wird. Wohin denn zurück? Sein Blick verdüstert sich und geht zu Boden: "Nach B. - zurück ins Heim für Erwachsene". Der Blick von unten schräg hoch zu meinem Gesicht: "Schreiben Sie mir mal eine Karte?" Adresse? Wird auf ein Flugblatt gekritzelt. "Schauen Sie, da vorne stehen Adressen für Obdachlose, wenn Sie mal ein Dach über den Kopf brauchen, können Sie dorthingehen." Meistens schreiben die Leute nicht. Er flirtet oft mit Frauen und viele flirten zurück, doch keine schreibt. Und die Adresse von Olga hat er verloren, die von Maria konnte er sich merken, doch sie hat nicht zurückgeschrieben. "Hoffentlich wird Ihr Freund nicht eifersüchtig, wenn Sie mir schreiben?" Es wird niemand eifersüchtig. Gut. Die Adresse kann ich auch weitergeben, wenn ich eine kenne, die solo ist. Er hätte gern eine Partnerin. Er hätte auch gern eine Arbeit. Er hätte auch gern eine Wohnung. Doch er hat keine Chance. "Aber wissen Sie", nun strahlt er wieder, und er strahlt wirklich, mit riesigen silberblickenden blauen Augen unter blonden Locken, "wissen Sie, es geht uns ja noch sehr gut hier. Schröder und Eichel haben zwar viel versprochen und nichts gehalten, doch es geht uns noch gut. Den armen Menschen in Äthiopien oder Israel oder Tschetschenien, denen geht es viel schlechter. Sogar in der Schweiz geht es den Menschen nicht so gut wie in Deutschland".

Der Zug ist eingefahren. Ich will ihn im Gewühle nicht verlieren, doch er winkt ab. Er fährt nicht mit diesem Zug, er geht nun zur Bahnhofsmission und dann weiter. Winkt und ist verschwunden.
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29.11.02
Wenn die Worte lebendig werden, vor Deinen Augen Gestalt annehmen, wachsen, wenn sie Dir mit gezücktem Degen näherkommen, Dich anspringen, ins Bein beissen, würgen, böse kichernd -; wenn die ohnehin raren Worte sich verstecken, welche lindern könnten: sich Dir kühlend auf die Stirn legen, sich Dir leise ins Ohr flüstern, beruhigend die Hand fassen -; wenn zu all dem Spektakel nie vernommene Stimmen längst verstorbener Dichterinnen monoton rezitieren, keine Ruhe geben, dann ist es Zeit. Höchste Zeit für eine Pause. Und sei es nur eine knappe Stunde nervenzusammenbrechend im Bett.


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Hätte ich es vor vier Jahren gewagt, nach Lübeck zu ziehen: Wie wäre es mir heute ergangen? Alles ist denkbar. Wie wird es mir in vier Jahren gehen, wenn ich jetzt bleibe?
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Schön, wenn privates Engagement und viel Mut gesehen und auch gewürdigt werden: Sozial-Ass 2002 (Der "Titel" klingt in meinen Ohren etwas unklar, aber so lautet er nun mal).
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Lob keinen Tag vor seinem Abend, lob keine Woche vor dem Ende und freu Dich nicht zu früh mein Kind. Früh gefreut, oft bereut, LaLeLu, wer schaut zu? Wenn sie zu zerren beginnen, die mächtigen Kräfte, ist's besser stillzuhalten. Oder nicht? Was bleibt?

Dem Gelben ist es egal: "Wie's kommt, so kommt's, ist doch egal".
Der Grüne vertraut auf den großen Plan: "Wie's kommt, so kommt's, es wird für was gut sein".
Der Rote versucht sich zu wehren:. "Das muss doch anders möglich sein!"
Die Blaue möchte runter vom Spielfeld.

Arme blaue Spielfigur. Mensch. Ärgere Dich. Nicht.
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28.11.02
Das gestrige Verlassen der Wohnung war schon ok. Hab ein 50-Pfennig-Stück auf der Straße gefunden. Hab vielleicht bald neue alte wunderschöne Stühle. Hab leibhaftig gesehen, wovon ich bisher nur las: Nikoläuse als Fassadenkletterer. Somit war der Schock nicht ganz so groß, als ich diesen Weihnachts"schmuck" heute am Haus meines Zahnarztes hängen sah. Als wäre es nicht schlimm genug, zum Zahnarzt zu gehen. Schlimm ja, doch die panische Angst scheine ich langsam in den Griff zu bekommen: Während die hervorragenden Assistentinnen ihre Arbeit in meinem Mund verrichteten, bekam ich plötzlich Hunger. Das halte ich für ein gutes Zeichen.

Es langweilt mich, was ich hier schreibe. Von gewünschten Rosen und geerntetem Heu wollte ich erzählen. Nein, ist nicht die Zeit dafür. Besser Zahnlinks und dann ins Bett.

Gegen Dentalphobie

Gesunde Zähne

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27.11.02
Es wird schon gut sein, daß ich mich heute verabredet habe. Es wird gut sein rauszugehen. Diese verdammte Trägheit. Die nicht mal vor den Augen haltmacht. Selbst das Sehen macht Mühe, es ist mühsam, die erblickten Schwammkonturen im Kopf zu einem Bild zu formen. Ob das nun an den Augen oder am Gehirn liegt will ich gar nicht wissen.
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"Ich habe Zeit,
individuell zu sein
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nehm mir die?"

(Arno Schmidt, Zettel Nr. 41


Die ersten 200 Zettel des Tages nun gesammelt zum Runterladen: Zettel-Zip , bereitgestellt von der Arno-Schmidt-Stiftung.
[von frapp.antville]


Dieses Haus darf überleben.


Vererbte Konflikte: Nachwirkungen der NS-Zeit auf die Nachkommen. Manches kommt mir sehr bekannt vor. Obwohl ich bereits der 2. Generation angehöre, einer Familie, die nicht mittelbar betroffen ist. Glaube ich zumindest.
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26.11.02
Mit dem Wassertrinken könnte ich ja mal anfangen. Aber es wird nicht genügen, um wunschlos glücklich zu werden. Dazu ein Interview.

Ich war seit vielen Jahren nicht mehr auf dem Christkindlesmarkt und werde auch heuer nicht hingehen. Warum der link? Weil es naheliegend ist.

Mit der Verlinkung zum Silbernen Otter hab ich gewartet, weil ich auf Bilder hoffte. Wird wohl keine geben.
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Gestern war mein erster Urlaubstag und wenn an einem solchen frühmorgens um kurz vor neun das Telefon schellt, sollte ich nicht rangehen. Und doch tat ich es. Wenn am andren Ende der Leitung die Kollegenstimme säuselt "Ja hallooo-oo..." sollte ich mir sofort und auf der Stelle ein entschiedenes "Nein!" auf die Zunge legen. Tat ich nicht. Stattdessen hab ich natürlich Zeit (hab ich ja auch) und erscheine kurz vor elf zur Krankheitsvertretung am Arbeitsplatz. Und zwar müde. Todmüde. Meine Gestaltung der Nacht davor nämlich hat einen langen Mittagsschlaf eingeplant. Bin ich blöd? Ich bins, i know. Jedoch statt mittagzuschlafen hab ich die Nachricht unter sechs Augen erfahren anstatt nebenbei am Telefon. Und das war viel schöner so. Die Nachricht, daß das Schicksal ungnädig zu mir ist. Mir die Wahl lässt. Ich die längst getroffene Entscheidung endlich fällen kann. Zugunsten der gnadenlosen Unvernunft. So werde ich niemals reich und auch nicht zu Ruhm und Ehren kommen, doch weiterhin mit den Raben auf den steinernen Treppen sitzen. Alles andre hätte mir zumindest einen Teil meines Herzens zerrissen. Vieles ist anders geworden und wird ab Januar noch viel mehr anders, aber meine Wochenenden bleiben. Vor noch nicht allzulanger Zeit wäre es Grund zum uneingeschränkten Jubeln gewesen. Jetzt ist alles so - ich weiß nicht. Ich bin müde.
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24.11.02
Der Polizist pfeift eine kleine Melodie und ich singe kleine Lieder und Sigourney Weaver krächzt vom glücklichen Stern. "Haben Sie keine Angst?" frage ich ihn, er sieht mich nicht an und überlegt eine Weile (was ihn sympathisch machen würde, wäre da nicht das Gefühl, er kramt im Hinterstübchen nach rudimentärem Wissen über den psychologisch richtigen Umgang mit nervösen Personen). Angst hat er also, aber nicht sehr, weil wegen langer Erfahrung und so. Aha. Aber schöne Augen hat er. Als wenn Bomben platzen würden wie Luftballons. Überhaupt wäre es schlimmer von einem Hai angeknabbert zu werden. Ach ja? Auch wenn es eine Eisbombe ist? Blödsinn. So schnell bricht man sich nicht das Genick.
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Um halb sieben nach langem Arbeitstag brauch ich kein Radio und kein TV, nicht mal eine Nachrichtenseite im Netz. Es genügt, bei Antville die aktuellen Titel der weblogs zu lesen um zu wissen oder wenigstens zu ahnen, was in Österreich vor sich geht.
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23.11.02
Die eine Frau ißt ein Sandwich, Tomate-Mozarella. Bei jedem Biss beugt sie ihren Kopf über das Sandwich, wobei die Haare in´s Gesicht fallen und nicht nur einmal mit in den Mund geraten. Der Pelzkragen ist übersät mit Krümeln. Sie kaut schlampig, schlingt hinunter und beugt erneut den Kopf über das Sandwich. Die andre Frau starrt die Essende unentwegt an, zappelt mit dem Bein und lässt monoton den Gummiring, der sich an ihrem Armgelenk befindet, auf die Haut schnalzen. Unentwegt. Der Rollstuhlfahrer trägt einen akurat modern geschnittenen Dreitagesbart im Gesicht und Kopfhörer an den Ohren. Er wird von einem jungen Mann in Lederkleidung angestarrt. Dieser hat einige moderne Piercings an den Ohren und dahinter ein Hörgerät. Vier Menschen auf engstem Raum, sechs lange Minuten, in einer vollbesetzten U-Bahn.
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Junger Mann spricht junge Frau an, im Zug, Unterhaltung über den Gang hinweg. Er will zu ihr, sie sagt nein, weil er trinkt Rigo und sie ist trocken und packt jetzt keinen Alkohol in ihrer Nähe. Und dann:

Er ringt nach Fassung: "Du kannst keine Alkoholikerin sein!"
Sie zieht die Augenbrauen hoch: "Warum nicht?"
Er: "Weil Du hübsch bist."
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Jung und alt eins und zwei.
[von Quimbo]


Morgendlicher Besuch auf dem Balkon. Knödel gibt es, wenn überhaupt, aber nur bei Dauerfrost und Schnee.
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22.11.02
Stell Dir vor, Du hast die Wahl.

Täglich sattessen mit einer leckeren, jedoch fleischhaltigen Mahlzeit. Du bist Vegetarierin und magst kein Fleisch. Die Alternative ist eine Scheibe altes Brot.

Täglich mit dem Bus fahren. Vom Busfahren wird Dir schlecht, die Übelkeit hält lange an. Die Alternative ist ein täglicher Fußmarsch in zu kleinen Stiefeln.

Du benutzt niemals Regenschirme. Regenschirme sind albern und was naß ist, wird auch wieder trocken. Nun ist die Regenjacke, die einzige mit Kapuze, kaputt, Du bist stark erkältet und jemand bietet Dir einen Schirm für Deinen Weg an.

Oder so?: Du kannst fliegen, hoch oben am Sternenhimmel, kreuz und quer, das Fliegen ist traumhaft schön. Doch Du wirst an einem Ort landen, an dem Du nicht sein willst. Oder: Du kennst ein traumhaftes Plätzchen, zum Leben, wie Du es Dir wünschst. Den Weg dorthin bahnst Du Dir kriechend durch den Dreck. Und weißt nicht, ob Du ankommst.

Du hast zwei Listen vor Dir: Die eine enthält viele Pluspunkte und kaum Minuspunkte. Auf der andren findet sich ein dicker großer Pluspunkt und viele häßliche Minuspunkte.

Spatz und Taube passen nicht in diese Überlegungen. Ich würde sie beide fliegen lassen.

Bücher: Ein schönes Buch, sehr angenehm zu lesen. Leicht ohne flach, lang ohne weilig, dauernd ohne aus. Oder ein schwieriges Buch, aufwühlend, seltsam faszinierend, beunruhigend. Es verfolgt Dich bis in die Träume. Mit ungewissem Ausgang.

Steinerne Treppen, auf denen Du Dir irgendwann die Beine, wenn nicht gar das Genick brechen wirst. Oder Stahl und Glas. Klimatisiert, isoliert, konstruiert.

Alle Vergleiche hinken. Doch was brächte es, deutlicher zu werden. Entscheiden muss ich mich selbst. Entscheiden müssen ist gräßlich. Vielleicht ist das Schicksal gnädig und nimmt mir die Entscheidung ab. Doch wäre dies noch gräßlicher: Keine Chance auf gnadenlose Unvernunft.
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20.11.02
Ja: Österreichischer Werbespot gegen Alkohol am Steuer.
[von Wortlog]

Warum nicht mal ein ähnlich klarer Spot gegen Alkohol in den eigenen vier Wänden? Gelbgesichtige ausgemerkelte Zittergestalt mit Aszites und Spider Naevi in Großaufnahme begegnet zerstörtem Kind. Nein, ich mag mir das nicht weiter überlegen.
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Ab Montag, 25. November 2002, verkehren die Regionalzüge auf der Strecke N.–A. wieder ohne Unterbrechungen. ... Die Deutsche Bahn wird nach Abschluss der Bauarbeiten an den Bahnhöfen entlang der Strecke N.-A. eine „Entschuldigungsaktion“ für die Fahrgäste durchführen.

So stand es heute in der Zeitung. Am Abend beim Durchqueren des Hauptbahnhofes: an einem Stand werden rote Luftballons maschinell aufgeblasen und an die Reisenden verteilt. Mein erster Gedanke bestätigt sich nicht, dies ist nicht die Entschuldigungsaktion, sondern Werbung für den neuen Bahntarif ("Endlich lohnt es sich, Mann und Kind zu haben ..."). Vielleicht wird es zur Entschuldigungsaktion grüne Ballons geben. Man soll die Hoffnung nie aufgeben.

Der Weg durch den unterirdischen Gang zu Gleis 22 ist übersät mit ausgemerkelten Luftballonleichen. Ein Gesprengsel roter Häute. Ich mag keine Luftballons. Es ist mir peinlich, aber ich habe sogar Angst vor ihnen. Ich habe vor allem Angst, daß plötzlichen Lärm verursachen könnte. Beim Sinnieren fällt mir das Kind ein. Ungefähr vier, vielleicht fünf Jahre ist es alt und befindet sich mit den Eltern auf einem Kinderfest. Überall sind Kinder und viel Lärm. Der Mann auf der Bühne verkündet, daß nun ein Luftballonwettbwerb stattfinden wird. Das Kind mit dem größten Luftballon erhält einen Preis. Das Kind mag keine Luftballons aufblasen, es hat Angst vor dem Zerplatzen direkt am Gesicht. Jedoch es wird gedrängt: "Stell Dich nicht so an" sagen sie. Man drückt ihm einen roten Luftballon in die Hand: "Los, blas ihn doch auf!" fordern sie. Nichtvorhandener Mut muss unter Beweis gestellt werden anstatt daß man sich anstellt. Und so bläst das Kind in den Luftballon, den ekligen Gummigeschmack im Mund. Alle Kinder müssen sich nun mit ihren Luftballons vor die Bühne stellen. Der Luftballon des Kindes ist ein bißchen größer als eine Orange und es will nicht nach vorne. Doch halb geschubst und halb gezogen von einem größeren Mädchen ("Paß auf die Kleine auf") steht es nun inmitten der andren Kinder. Riesige Kinder mit riesigen Luftballons. Alle Luftballons müssen nun hochgehalten werden, doch das Kind möchte seinen Ballon nicht hochhalten. Aber das größere Mädchen passt gut auf: "Du musst ihn hochhalten, damit ihn alle sehen!" So hält das Kind den Luftballon hoch, damit ihn alle sehen. Es weiß, daß dies ein mickriger kleiner Ballon ist und das es dumm ist, ihn hochzuhalten. Der Mann auf der Bühne hätte das nicht auch noch sagen müssen: "Mensch Du Kleine, was willst Du denn mit dem kleinen Ballon hier:" Es ist wieder einmal kein Wunder geschehen.
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19.11.02
Dann waren da gestern im Zug noch die beiden Männer. Vermutlich viel älter aussehend als sie sind, lederartige Haut, die Kleidung so verwahrlost wie Haare und Bärte. Rauhe Stimmen, Plastiktüten. In ihrem Blickfeld der Mann mit der Aktentasche. Aus der er den Jägermeister [keinen Flachmann, eine mindestens Viertelliterflasche] zieht und trinkt. Keinen Schluck, einen Zug: und was für einen. Die beiden kichern. "Hau rein, Bruder" meint der eine, und nach einer Weile bietet er dem Aktentaschenmann ein Gummibärchen aus der Plastiktüte an. Die Flaschen sind der Tüte längst entnommen und stehen auf dem Abstellbrettchen: Fanta in rosa.
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Kein Mensch des öffentlichen Lebens wirkte über Jahre hinweg so stark auf mich wie Jodie Foster. Heute wird sie 40. Eine knappe Biographie und Bilder.
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18.11.02
Morgen früh Zeit zum Wünschen.

Kein böses Tier des Jahres 2003.
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Mittagschläfereien und ihre seltsamen Stimmungen, sie hatten sie schon immer und auch heute. "Der Blüte blumiges Angesicht vertrocknet gar zu schnelle..." flüstert eine der inneren Stimmen. Kaum mehr vernehmbar der Nachhauch: "Das Große Weinen wird ein Ende nehmen...". Damit werde ich dem Schlaf überlassen.

Und finde mich auf der Geburtstagsfeier eines Vierjährigen in England wieder. Sehe den Kindern zu. Auf einem Rasenstück präsentieren sie einstudierte Tänze, gekleidet sind sie in dunkelblaues Einerlei. Das Blau einige Schritte weiter ist anders: sattleuchtend, wunderbar, zum Hineinfallen. Blau ist das Wasser, blau ist der Himmel, blau ist hier die ganze Welt, und blau ist mein Buch in der Hand. Ein Bilderbuch mit allerliebsten Zeichnungen, hübsch anzusehen und nur ein bißchen kitschig. Die Verse im Buch sind weder blau noch wunderbar noch allerliebst. Sie sind ein Alptraum im Mittagstraum. Der braungebrannte Herr mit den roten Gamaschen, er ist schuldig. Besser wäre es, langsam aufzuwachen und die mail von heute morgen zu beantworten. Doch auf dem Bildschirm nur eine Anhäufung merkwürdiger Zeichen, bekannt zwar, doch nicht lesbar. Es ist also soweit, schon lange erwartet und nun ist es passiert: Ich bin buchstabenblind geworden. Weniger Panik als Resignation: ich glaubte mehr Zeit zu haben. Weiter zur Burg, dort wartet ein altes Ehepaar. Es will mit Kreditkarte bezahlen, doch dafür bin ich nicht ausgerüstet.

Langsam erwachend denke ich über das Ehepaar nach, das Viereurozwanzig mit Kreditkarte bezahlen will, und daß ich dann in die Stadt muss und wie furchtbar es ist, buchstabenblind zu sein und nun bin ich aucn noch gelähmt, es ist mir nicht möglich mich zu bewegen, doch das ist nach Mittagschläfereien oft so, hoffentlich schellt der Wecker bald und zugleich graut mir vor dem Geräusch und das Lachen des Ehepaars dringt an mein Ohr "Haha! Wir müssen erst bezahlen!" und sie lassen sich das Geld nicht schenken, also warte ich bis die Frau das Geld organisiert hat und dann, nachdem die beiden ihren Eintritt endlich bezahlt haben, kann die Vorstellung zuende gehen und ich setz mich auf. Zehn Minuten vor dem Weckerschellen.
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Die meisten Ausstellungen sind zeitlich befristet und das ist gut so. Sehen will ich ja, doch wenn noch viel Zeit ist, dann hat es Zeit. Erst wenn sie drängt, die Zeit, wird mein Verlangen groß und somit sind letzte Tage meine Tage, das war schon oft so und auch gestern: Armando in Nürnberg.

Messerschmidts Köpfe sind noch bis nächstes Jahr November ausgestellt. Sehr viel Zeit also.

Eine Überlegung: Wenn alles unbegrenzt wäre, es keine letzten Tage gäbe, für alles viel Zeit bliebe. Keine Ahnung, was dann wäre.
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16.11.02
Erstaunlich, was plötzlich im Kopf auftaucht, so lange nicht gehört, so anlasslos, so einfach so. Auf der Suche nach der CD (speziell Titel 8, den zu verlinken ich nicht in der Lage bin) in eine andre Epoche wandern. Zu der Musik, die auf keinem Friedhof zu hören ist.
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Der wochenendliche Arbeitsplatz beginnt sich in eine Baustelle zu verwandeln. Das ist nicht schlimm. Ich seh mich schon auf den steinernen Treppen sitzen, hinter mir das Skelett eines Arbeitsplatzes. Arm in Arm mit meinem Freund, dem Pflanztrog, sitz ich da und warte, denn the show must go on. "Allmächtiges Leben!" wird der Kollege dies am Dienstag kommentieren. Dabei muss ich immer lachen.

Später in die U-Bahn trat eine blasse Frau mit quietschbabyschweinchenrosa Jacke. Die Nasenspitze der Frau wies exakt die gleiche Farbe auf.

Und dann war heute Heimspiel. An Heimspieltagen ist das Zugfahren am Abend abenteuerlich. Vor zwei Wochen befand ich mich zwanzig Minuten mit einem jungen Fußballanhänger im Abteil. In den zwanzig Minuten tätigte er ca. siebenundreissig Anrufe, die nach folgendem Muster verliefen: Der Beginn war stets der gleiche, ein Schrei ins Handy: "Hey Du Drecksau, weißt es schon?" Falls der Angerufene es wusste, hörte ich ein befriedigt klingendes Grunzen. Falls am andren Ende der Leitung jedoch nicht gewusst wurde, und weit über die Hälfte seiner Telephonpartner wusste nicht, ging das Gebrüll weiter: "Hey Du Drecksau - schwaaaach!" Kurz und knapp wurde der Sieg des Club mitgeteilt, für längere Gespräche war keine Zeit - es musste ja der nächste angerufen werden.

Heute wählte ich ein Nichtraucherabteil. An Heimspieltagen ist es dort ruhiger. Die vier Herren, die sich zu mir gesellten, unterhielten sich über einen Schaffner, der vor einigen Jahren fast gestorben wäre. Weil ein Soldat ihm während der Fahrt eine Kampfspritze in den Oberschenkel gestochen hatte. Sowas können die Soldaten, und dann fängt das Fleisch an der Stelle an zu faulen. Es fault immer weiter und dies lässt sich nicht aufhalten. Normalerweise stirbt man daran, doch der Schaffner hatte Glück, lag nur neun Monate im Krankenhaus und kam ohne Bein wieder nach Hause.

Das Leben war heute streckenweise schön, Baustellchen vor, Raben über, Pflanztrog neben und Treppen unter mir, dabei ein Buch auf den Knien.
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14.11.02
Pelz ist peinlich

Pelz bei Karstadt

Mangas in Hamburg
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Vitamine hab ich vergessen. Stattdessen eine Packung Trotz in den Vorräten gefunden, ganz hinten versteckt. Anschließend hab ich die Bücher aufgehoben, die ich letzte Woche beim Umfallen mit zu Boden riß.
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Es war gegen 15.00 h, als zugleich mit dem Klick auf einen link einer mir unbekannten website zischelnd der Rechner ausging. Ich bin naiv genug: im ersten Moment glaubte ich, ein Witzbold hätte diese Funktion in seinen Quellcode eingefügt. Doch dann sah ich, daß auch das Licht aus war. In der ganzen Wohnung, wie ich gleich darauf feststellte. Im ganzen Haus, wie gleich darauf dem Geschnatter im Treppenhaus zu entnehmen war. Der Fensterbeleuchtung in den andren Häusern der Straße nach zu schließen hat hier niemand Strom: Alles aus. Nach ein bißchen Nachbarschaftsgeschnatter häng ich am Telephon: Der Hausverwalter hebt nicht ab. Bei der Stadtverwaltung ist kein Durchkommen, nicht das Besetztzeichen, sondern ein hektisch piepender Ton verweigert mir den Kontakt. Auch meine Oma hebt nicht ab - falls auch bei ihr der Strom ausgefallen ist, fürchtet sie sich sicher. Ich rufe das Landratsamt an - dort meldet sich jemand. Er weiß schon, aber kann mir nichts sagen, sagt er, hektisch und aufgeregt, wissen Sie, der Leiter des Katastrophenschutzes, das Amt für öffentliche Sicherheit, ich kann ihnen nichts sagen, einen Moment bitte - er unterhält sich mit jemand scheinbar neben ihm Stehenden über irgendeine Explosion - also hier bin ich wieder. Explosion? Ja, wenn irgendwas nachkommt, dann bekommen Sie Bescheid, selbstverständlich. Und bitte schön wie kriegt man Bescheid? Tja.

Die Oma hebt immer noch nicht ab. Falls die Explosion in ihrer Gegend war, sie wird sich schrecklich fürchten. Und irgendwas muss doch für eine Explosion verantwortlich sein. Die Oma ist allein im Haus. Und geht einfach nicht ans Telephon. Niemand, den ich hier in der Gegend kenne, geht ans Telephon. Es ist furchtbar in der Wohnung, nichts zu machen. Kein Rechner, kein Staubsauger, kein Bügeleisen geht, zum Lesen oder Zeichnen ist es zu dunkel. Mit Kerzenlicht kann ich nicht lesen. Um die Taschenlampe in Gang zu bringen, bräuchte ich Strom. Es ist furchtbar auf dem Balkon. Die Welt scheint stiller und dunkler als sonst. Das Gefühl des Abgeschnittenseins. Wenn was nachkommt ... Fühl mich wie Hägar, der Angst hat, daß ihm der Himmel auf den Kopf fällt. Falls das Hägar war. Spiele mit dem Gedanken, in die Schweiz oder nach Berlin zu telephonieren: Hier ist Stromausfall und ich hab Angst; und komm mir unglaublich blöd vor.

Der Blick fällt auf die Visitenkarte eines Polizisten, die hier seit einigen Tage rumliegt: Falls ich irgendwas für Sie tun kann. Die Polizei mein Freund und Helfer? Ich rufe die nächstgelegene Polizeistation an. Mit ruhiger Stimme erklärt mir der Beamte, daß man Bescheid weiß. Daß ein Umspannwerk brennt. Daß Streifen durch die Gegend fahren. Daß nichts weiter zu befürchten ist und der Strom, wenn wir Glück haben, in einigen Stunden wieder da ist. Nein, Tage wird es vermutlich nicht dauern. Es ist nichts weiter zu befürchten, so geh ich ins Bett. Stromabhängigkeit ist eine wirklich beschissene Angelegenheit. Nach dem Aufwachen ist die Wohnung hell und der Rechner läuft. Und die Oma geht ans Telephon. Nachtrag: Es gibt zwei leicht verletzte Arbeiter, sonst ist nichts passiert.
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"Hochgeschätztes Publikum, verehrte Damen, geehrte Herren, treten Sie näher." Er schreit es nicht wie die andren Marktschreier. Er ist ein Marktwisperer. Was wispert er, was hat er im Angebot? Keinen Homunculus, keine Dame ohne Unterleib, weder eine Sensation noch eine Einmaligkeit, nur die Seiltänzerin. Nichts Besonderes, meinen Sie? Auch nicht der Tanz auf einem lebenden Seil? Nun gut, meint der neugierige Besucher, nach all den Homunculi und Damen ohne Unterleib und Sensationen und Einmaligkeiten also eine Seiltänzerin. Auf einem lebendigen Seil.

Die Seiltänzerin tanzt auf ihrem Seil, ein paar Schritte vor, ein paar Schritte zurück, eine Pirouette zwischendurch. Sie strauchelt und fängt sich und lächelt wieder. Eine langweilige Vorstellung, schon oft gesehen. Leiser Trommelwirbel, kaum vernehmbar, kündigt die Veränderung an. Ihr erstarrendes Gesicht, ihr Verharren kündigt die Veränderung an. Wer genau hinsieht erkennt die Regung des Seiles. Sie umklammert ihr Schirmchen. Locker bleiben möchte man ihr zurufen, das Seil zittert doch nur ein bißchen, Du schaffst das. Das Seil zittert ein bißchen und beginnt zu wachsen. Das Seil beginnt zu atmen. Die Seiltänzerin steht auf einem baumstammdicken sich windenden Seil und tanzt nicht mehr. Eine Seilsteherin. Das Seil windet und bäumt sich und schnalzt, sie fliegt durch die Luft [dem Publikum einen formvollendeten Salto präsentierend] und landet auf den Beinen. Auf dem Seil. Dem Seil wächst ein Kopf, zwei drei Köpfe, Fratzengesichter züngeln und spucken Feuer. Georgina zückt ihr Schwert und schlägt einen Kopf, zwei drei Köpfe ab. Im Fallen versengt das letzte Fratzengesicht ihr Haut und Haar und Tütü, nackt und verwundet und erschöpft steht eine Seiltänzerin auf einem erschöpften Seil. Dem ein schöner Jüngling entwächst, ihr schmeichelnd, sie mit Schokolade lockend; vorsichtig geht sie [schon lange ausgehungert] auf ihn zu und Nicht!, möchte man rufen, siehst Du nicht seine Augen! und sie greift nach der Schokolade und verätzt sich am giftbeissenden Schleim in ihrer Hand, die Hände des Jünglings derweil an ihrer Hüfte, lassen sich nicht abschütteln, sie ist gepackt und wird gezogen und da beginnt sie giftbeissende Worte zu spucken und trifft nur sein kaltes Herz. Und ihre Worte werden zum endlosen Schrei bis das Glasherz des Jünglings zerklirrt. In ihrem rotpulsweichem Herz setzen sich die Splitter ab. Das Ende des Seils wird zu Mund und bläst einen Orkan, wird zu Wolke und lässt Hagel schauern, wird zu Sonne und versengt. Die Tänzerin kauert auf dem Seil, eine Träne verlierend. Steht auf und geht mit ruhigem Schritt auf das Ende des Seiles zu. Die Trommeln verstummen.

Der neugierige Besucher sieht sich um, Kinder lachen und klatschen, Erwachsene lächeln milde, er blickt zur Seiltänzerin: zum Clown geschminkt macht sie letzte Späße auf ihrem Seil, bevor ein Tusch das Ende der Vorstellung besiegelt.
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Ein Scheiterhaufen mitten im Wohnzimmer. Die sterbenden Bücher lachen. Leise und ein bißchen spöttisch. Du kannst unsere Körper töten, doch nicht unsere Seelen. Von nun an brennen wir in dir.
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13.11.02
Wahrscheinlich bin ich krank. Wahrscheinlich beträgt meine Temperatur 63° C, der Puls dürfte bei etwa 2,5 liegen und der Blutdruck ist grün. Wahrscheinlich bin ich einfach krank. Das erklärt den immer enger werdenden Ring um den Kopf, den immer schwerer liegenden Stein im Magen, die immer fester drückende Faust ums Herz. Die Probleme mit den Augen sowieso. Wer krank ist, hat selten Schuld und darf jammern. Morgen geh ich Vitamine kaufen.
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Völlig klar: Wenn ich einmal um 21.00 h im Bett liege und nichts als Dunkelheit und Ruhe und keine Reize und Abgeschiedenheit und bloßes Nichts und vielleicht Schlaf möchte - müssen die Nachbarn Party machen, mit brüllenden Kleinkindern, hysterischen Müttern und polternden Vätern. Ich beginne Mietshäuser zu hassen. Und nicht nur die Kinder brüllen, sie brüllen alle, und alle scheinen sie hysterisch und gepoltert wird ohnehin in einem fort.

Völlig klar: Nach resigniertem ins Licht treten und Wutfluchen und Rechner hochfahren drüben die Abschiederei und Ruhe.
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11.11.02
Hm. Die Chronistin hat mich hiermit auf eine Idee gebracht. Gar nicht so kompliziert wie ich dachte. Wenn sich ein Ordnungssystem auch so einfach integrieren lässt, dann hab ich bald eins. Aber erst muss sich zeigen, ob das Permalinksystem funktioniert, technisch gesehen.
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Würde ich noch beten wie früher als Kind, mein heutiges Nachtgebet sähe so aus: Lieber Gott, bitte mach, daß alles gut wird, bitte mach, daß niemandem was Schlimmes passiert und bitte mach, daß mir beim nächsten Mal das Tiefkühlgemüse endlich einmal nicht anbrennt.
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Sie ist seit 14 Monaten tot und immer noch wähle ich manchmal aus Versehen ihre Telefonnummer. So wie eben. Immer noch kein Anschluß unter dieser Nummer.
[Nachtrag: Seit 26 Monaten, 26 Monate ist das schon her... Ich habe ein Jahr vergessen.]
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Das heißt wohl, ich muss mir ein neues weblog suchen, in welches ich alle paar Wochen mal schaue. Immer dann, wenn schlechte Laune gehalten werden soll. Was manchmal durchaus Sinn macht und bereichernd ist.
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Das tägliche Zugchaos bringt es mit sich: Menschen kommen ins Gespräch. Gestern sprach mich die alte Dame mit dem Foxterrier an (ich bin sehr gut darin, derlei Annäherungsversuche abzublocken, doch sie gefällt mir, diese alte Frau und ich war neugierig): "Also das ist schon was mit dem Zug momentan." Kein sehr verheißungsvoller Gesprächsbeginn, doch der weitere Verlauf machte Spaß: Daß sie nun zum Weihnachtsgansessen bei ihrer Schwester fährt, daß ihr Schnucki seinen eigenen Kopf hat und niemals mit in ein Museum gehen würde, daß auch Säuglinge im Alter von acht Tagen nicht in Museen gehen sollten, übertriebene Hygiene zur Schwächung der Abwehrkräfte führt, im Garten auch nicht jeder Milchstock entfernt werden muss und überhaupt, es gibt nun Laubsauger, so ein Unsinn, es gibt doch Rechen. Stolz erzählt sie mir, daß ihr Name ihr gehört und unbezahlbar ist ("Sagen Sie junge Frau: Wie ist das eigentlich mit dem Datenschutz?") und leider hatte der Zug gestern nur 15 Minuten Verspätung.
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Überall Friedhöfe und Bestattungskultur. Letzte Ruhestätten zu Land, zu Wasser und in der Luft, neuerdings auch virtuell; für Menschen und Tiere und Autos und Kuscheltiere. Doch kein Friedhof für gestorbene Liebe. Nein, es ist kein Widerspruch in sich. Vielleicht in höchstromantischen Zuständen, doch jetzt betrachtet stirbt Liebe nur allzuoft grausame Tode. Totgeschlagen, totgeschwiegen. Oder gestorben, einfach so.

Ein verwilderter Friedhof. Wenige Gräber kreuz und quer, überschaubar auf weitläufigem Gelände. Die Friedhofswärterin, ein Herz: ab und zu durchschlendert es sein Stück Land. Streichelt verwitterte Grabsteine, liest die unlesbaren Lebensdaten. Betrachtet die Blumen und das Kraut, blühend und vertrocknet, es macht keinen Unterschied. Sieht keine Kreuze. Sieht ein handbeschriebenes Buch, veschwommene Schrift auf bezeichnetem Papier. Hört Musik: Godley and Creme und Zappa und mongolische Obertongesänge und Klassik. Und mehr. Greift nach Papierfetzen: Worte der Liebe, des Abschieds, des Zorns. Der Trauer. Greift nach Erinnerungfetzen: an ein Lachen, an ein paar Augen, an eine Hand. Und mehr. Ein zerissener weißer Slip inmitten von Glasscherben: ohne Erinnerung. Ein immergrüner Birkenbaum. Ein Salzsee. Eichelhäher und weiße Tauben, Raben und Eulenvögel. Fledermäuse. Viel Dornengestrüpp, viel Rosen. Gänseblümchen und Vergißmeinnicht. Buchstaben, Töne und Leben, verdichtet zu Gefühl.

Das Herz hat Angst. Es möchte keine kleine suizidierte Verliebtheit begraben müssen. Kleine Verliebtheiten sollten sich erheben und fliegen.
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Ob meine beiden Omas, beide Anfang der zwanziger Jahre geboren, sich über diese Kalender als Weihnachtsgeschenk freuen werden? Die eine ja, und sie wird ihn auch bekommen. Bei der andren bin ich nicht sicher: Längst vergessene Träume könnten ins Bewusstsein dringen und Trauer, bisher gebändigt und ruhiggestellt, sich ihren Weg bahnen. Weiss nicht. Mir gefällt der Kalender sehr gut, und wenn ich mal alt werden sollte, möchte ich mich darüber freuen können. [Über so Kalender. Nicht unbedingt übers Altgewordensein.]

Dazu passt auch auch diese Seite über die Ästhetik des Alters.
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Wenn Rampignonschamsoße den Franziskanermördern vorausgeht und dies nicht auf Einnahme psychotrop wirkender Substanzen zurückzuführen ist: Worauf dann? Wo ist die Grenze zwischen akuten Verwirrtheitszuständen und dem Punkt an dem es Zeit wäre, einen Arzt aufzusuchen?
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Wie gern würde ich in diesen Bücherkisten stöbern.
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10.11.02
Im Berufsschulklassenzimmer meines Sohnes steht ein Telephon. Das hat er erzählt: Dann hat da einer irgendwie die Nummer rausgekriegt. Und dann hamma angerufen, den ganzen Tag lang, ja klar, mit den Handies unterm Tisch. Und aufgelegt, immer wenn er abheben wollte, der Lehrer. Der hat das einfach nicht geschnallt, naja, Lehrer halt. Irgendwann war der voll genervt, hat das Telephon dann einfach schellen lassen und gemeint, das werden eh bloß Eltern sein, die sich beschweren wollen. Als es wieder geschellt hat, hat der A. gefragt, ob er abheben darf und der Lehrer, also echt voll genervt, hat bloß gemeint, mach nur. Der A. hebt ab und meldet sich: hier deutsche Telekom! Naja, und dann - wars einer vonner Gewerkschaft.

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09.11.02
Nochmal Dokumentationszentrum.




Nur eine 64. Jährung, unrund,
nächstes Jahr wird mehr davon zu hören, lesen, sehen sein.


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07.11.02
Geschichten wie die Zuggeschichte klingen meist nach Schulaufsatz. Sie sollen erzählt werden, sie sollen irgendwann erzählt werden, doch nicht zu Zeiten, in denen Inneres nach außen drängt, einem hornverschuppten undurchdringbarem Außen zu, während der Filter der Gegenrichtung wieder kaputt ist: Durchlässig egal was kommt. Und man sich allein im Kopf vorfindet, eingesperrt mit erbärmlichen Inhalten.




Anfang Oktober hatte ich den Gedanken, eine Art Zug-Weblog zu kreieren oder dem Drama wenigstens eine eigene Rubrik zu schaffen. Doch fehlten Zeit und Energie: Das alles blieb beim Zugfahren. Der Hintergrund: Gleisbauarbeiten zwischen A. und R., einer Teilstrecke der Strecke, auf der ich in die große Stadt fahren kann. Mein Haltepunkt ist der Stadt sehr nahe und weit weg von A. und auch R. Man sollte also annehmen, daß die Arbeiten alle hier Zusteigenden nicht tangieren. Ist aber nicht so. Die gestern erlebte Geschichte soll nun stellvertretend für die unzähligen bereits geschehenen Geschichten erzählt werden.

Zwanzig Minuten vor Abfahrt des Zuges (in der Stadt, Richtung nach Hause) um 19.49 h begebe ich mich durch den unterirdischen Gang zu Gleis 22. Die Treppen hochsteigend seh ich den Zug schon bereitstehen, was verwundert, doch auf der Anzeigentafel ist zu lesen: Der Zug fährt heute auf Gleis 18. Das nun verwundert nicht, das ist normal. Zur Zeit. Umkehren, zurück zu Gleis 18. Einige Menschen stehen dort im Gespräch mit einem Schaffner. Im unterirdischen Gang. Die Anzeigentafel auf Gleis 18 sagt, daß dort demnächst der Zug nach B. abfahren wird. Die Leute reden auf den Schaffner ein. Ein uniformierter Polizist, ein altes Ehepaar, ein grinsender Herr mit Spitzbart, eine Mutter mit jugendlicher Tochter. Und noch ein paar mehr. Das Ehepaar wartet schon seit einer Stunde. Sie wurden auf Gleis 12 geschickt, eine Stunde vorher, und bis sie dort ankamen war der Zug weg. Der Polizist scheint sich zum Gruppensprecher berufen zu fühlen: So tun Sie doch was! Wo fährt der Zug nach A. denn nun ab? Andre Stimmen: Wir wollen nicht nach B.! Und: So ein Saustall wieder! Der Schaffner ist entnervt. Er hat Feierabend und will nach Hause. Und zwar genau mit dem Zug, auf den hier alle warten. Abwechselnd versucht er die zum Teil recht aufgebrachten Leute zu beruhigen und mit der Zentrale zu telefonieren. Schließlich läuft er die Treppen hoch zu Gleis 18.

Alle warten. Die Zeit schreitet voran, es ist kurz vor Dreiviertel, keine zehn Minuten mehr Zeit, bis der Zug fährt. Fahren sollte. Auf Gleis 18 wurde zwischenzeitlich durchgesagt, daß der Zug nach B. Verspätung hat. Derweil hat die Gruppe Zuwachs bekommen, ca. 25 Menschen stehen hier mittlerweile versammelt. Man sah sie vorbeieilen, nach hinten zu Gleis 22, und gleich darauf zurückkommen: Wollen Sie auch Richtung A.? Allgemeines Ja und Nicken, so blieben sie stehen. Alle stehen rum. Das Ehepaar jammert, der Herr im Spitzbart grinst, dem Polizisten hat es für eine Weile die Sprache verschlagen. Der Schaffner ist nirgends zu sehen (und tauchte auch nicht mehr auf, übrigens, ich versteh's). Noch vier Minuten, bis der Zug abfahren soll, und ich beschließe mich oben auf Gleis 18 umzusehen. Dort angelangt folge ich dem Bedürfnis mich umzudrehen und erschrecke: Alle ca. 25 Menschen, vornedran der Polizist sind mir gefolgt. Es hat mich sogar sehr erschreckt, plötzlich begreife ich, wie man zu einem Anführer wird.

Der auf die Abfahrt seines Zuges nach B. wartende Schaffner hat von nichts eine Ahnung. Zu den Treppen gehend läuft mir wieder ein Teil der Leute hinterher, ich sage ihnen: "Nun gehe ich zu Gleis 22" und sie nicken ernsthaft, halten das für eine ausgesprochen gute Idee (Himmel was bin ich genial). Die Treppen zu Gleis 22 hochsteigend - es ist 19.48 h, was ich zu dem Zeitpunkt aber nicht weiß - höre ich die Durchsage "Reisende auf Gleis 22 bitte einsteigen, die Türen schließen selbständig ...", ein Sprint und die Schaffnerin ist aufgehalten. Die alten Leute müssen den Zug einfach erwischen. Tun sie auch, wie ich aus dem Fenster sehe. Der Zug fährt mit fast 15-minütiger Verspätung ab. Was angesichts der Verspätungen bis zu 45 Minuten und Komplettausfälle nicht weiter schlimm ist. Zumal diese zwanzig Minuten zwischendrin durchaus witzig und unterhaltsam waren.

So ist das hier seit Wochen auf der Strecke von der großen Stadt nach A. und wird noch einige Wochen so weitergehen. Was wird Herr Mehdorn wohl sagen: "Das konnte niemand ahnen" oder "Ein entsetzliches Unglück, das wir zutiefst bedauern" oder "Wir werden uns bemühen, die Sache aufzuklären"? Was wird er sagen, wenn der erste Reisende einen Herzinfarkt erlitt oder der erste Schaffner tätlichen Angriffen ausgesetzt wurde?

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06.11.02
Ein Augenblick um zwei Augenblicke zu lang. Um viele Augenblicke zu kurz. Den Hauch von Flüchtigkeit bewahren: Brandzeichen auf der Netzhaut. Die Narben später ins Handgepäck.

Die freudigwinkende Hand ergreift ein Herz und drückt zu. Heraus tropfen Worte. Fürs Handgepäck.

"Halt die Ohren steif" hat er gesagt. Yes Sir! (Ich will versuchen, mir Mühe geben zu wollen).

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04.11.02
Ein Tänzchen? Sachte wiegen, schweben, drehen: nach links, nach rechts; neig den Kopf, knick das Bein; drehen und wenden und drehen und winden und drehen und drehen und wirbeln. Wirbeln. Hör die Trommeln und spür die Trommeln, sieh das Dunkel und fühl die Farben, sei die Trommel und werd zu Farben und fall ins Dunkel. Mit Dir möcht ich ihn wagen, den Tanz, ohja. Noch ist die Angst größer als das Sehnen: komm näher, Du liebes Wesen. Es muss nicht der letzte Tanz sein.

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03.11.02
Wir kennen uns nun knapp ein Jahr. Seit heute sagen wir Du zueinander. Er ist einer der Menschen, mit denen ich mich nicht verabrede, weil wir uns ohnehin oft begegnen. In diesem Fall ist der Treffpunkt der Bahnhof. Alle paar Wochen treffen wir uns zufällig am Bahnhof, zu unterschiedlichsten Tages- und Nachtzeiten, und unterhalten uns dann eine Weile. Heute endlich kann er erzählen, daß sein Buch erschienen ist. Ich kenne ihn nicht gut genug, um zu wissen, glaube jedoch, daß sich damit ein Herzens-, vielleicht Lebenswunsch erfüllt hat. Wenn er es geschafft hat, auch nur einen Teil seiner Art in dem Buch einfliessen zu lassen, dann ist es ein sehr schönes Buch geworden. Vielleicht auch ein wenig sperrig. Was nicht schaden dürfte, im Gegenteil.




Sir Anthony Hopkins im Gespräch mit den NN: "Leidenschaft ist so ein abgenutztes Wort. Michelangelo war leidenschaftlich. Ich interessiere mich für das Leben und genieße es. Ich genieße meine Arbeit. Das ist ein Vergnügen, aber nicht Leidenschaft. Leidenschaft schließt ein gewisses Maß an Verrücktheit oder Wahnsinn ein. Ich genieße es zu lesen, Klavier zu spielen, spazieren zu gehen oder im Garten zu arbeiten. Das Leben ist etwas ganz Gewöhnliches. Man steht morgens auf und legt sich abends schlafen. Tagsüber geht man seiner Beschäftigung nach. An meiner Beschätigung ist nichts speziell. Sie ist ein Job."

Im gelinkten Artikel über Hopkins ist von einem erotischen Touch des Hannibal Lecter im Schweigen der Lämmer zu lesen. Ich bin also nicht die Einzige.




Ein Jahr Doku-Zentrum.


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02.11.02
Sympathisch sah sie aus, vielleicht ein bißchen jünger als ich, rote Locken unter grüner Schirmkappe, Kinderrucksack auf dem Rücken. Kind an der Hand, der Junge ungefähr sechs Jahre alt. Und er frägt seine Mutter, warum sie denn nicht mit der S-Bahn nach Hause fahren. Die auf den ersten Blick Sympathische meint, sie kenne sich mit der S-Bahn nicht aus, und nicht diese Aussage macht stutzig, es ist der Tonfall. Die Betonung auf dem S der Bahn. Als würde sie sich mit allen Bahnen der Welt auskennen, nur mit der "Esssssssssss-bahn" nicht. Der Junge, stolz: "Aber ich kenn mich aus" und er ist glaubwürdig, mit Freunden, Vater, Oma bestimmt schon oft gefahren. Die erst Sympathische: "Du! Ja, Du kennst Dich mit allem aus, grad du! Nicht mal lesen können aber sich mit der S-Bahn auskennen wollen, ha!. Du hast von nichts eine Ahnung, lern erst mal lesen! Du meinst, Du bist der Größte, wie! Ha! Als wenn Du Dich mit irgendwas auskennen würdest!" Die einst Sympathische, jetzt ein Haßobjekt. Rote Locken und grüne Mützen verbergen blanke Dummheit gepaart mit Ignoranz und Lieblosigkeit nur sehr kurzfristig. Sie ist nicht kurz genervt, sie hat das trainiert, mindestens sechs Jahre lang, diesen gnadenlos höhnisch verächtlich herablassenden Tonfall. Wenn Blicke töten könnten. Sie spürt ihn, den Blick, dreht sich um, zwei Augenblicke treffen sich, kurz nur, schnell wendet sie sich ab. Zu manchen Kindern sollte man sich hinabbeugen. Ihnen die Hand hinhalten. Und leise sagen, daß sie in Ordnung sind, so wie sie sind. Anstatt am Abend noch immer kochend vor Zorn auf belanglose Internetseiten zu schreiben. Und die Wut an Möbelstücken statt an Müttern auszulassen hilft auch nicht.




Eben das Wohnzimmer umgestellt, um die Couch nach vorne ziehen zu können. Mal schauen, was sich dahinter befindet, vielleicht kann Platz für herumliegende Dinge geschaffen werden. Nun hab ich die Wahl: Das Monstermöbel auf der Stelle wieder zurückschieben und so zu tun, als wäre nichts geschehen oder: Am Montag einen Doppelpack Staubsaugerbeutel sowie Müllsäcke besorgen. Vielleicht auch Haushaltshandschuhe, vorsichtshalber.




Neues Bestattungsrecht? Bitte durchsetzen. Nur Tücher, höchstens Tücher ist das, was ich will.


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